Der diesige Tag ist gerade in aller Schönheit zu Ende gesunken in fahles Licht über dem See, die warmen, gelben Regierungsbauten hüllen einen Teil davon in ihre Stille, vor allem hinten bei Ho Chi Minhs Stätten. Der andere Teil ist der brausende Schwarm der Motorräder, Mopeds und anderer Gefährte, die uns wie Fische umschwimmen, wenn wir über die Straße gehen. Sonja Schirmbeck weiß viel und lässt nichts aus. Ich komme nicht mehr mit, will aber weiter hören. Mehr wissen.
Zuletzt spricht sie von der seltenen alten Wasserschildkröte, die im Schildkrötensee wohnt und auf ewig leben wird, wie die Vietnamesen sagen. Ein deutscher Tierarzt hat sie vor Kurzem rausgefangen und fit gemacht, sie hält wohl noch etwas durch. Das letzte Paar der Art, ebenfalls uralt, lebt in China. Weil Chinesen und Vietnamesen fortwährend streiten, gibt es aber keine Vereinigung der Schildkröten, die für die deren Zukunft wichtig wäre. Das chinesische Weibchen legt zwar Eier, aber ihr Mann ist wohl unfruchtbar.
Vielleicht wahren sie ja auch nur den Schein und sind pragmatisch – dieses Wort, dass ich hier so oft höre. Auch für die Ehe: Vietnamesen heiraten früh, leben sich öfter auseinander, bleiben dann aber um des Anscheins Willen zusammen. Das richtige Beziehungsleben findet für manche in den sehr langen Mittagspausen statt, in Hotels, mit anderen Scheinehepartnern.
Ich denke, dass das wohl in vielen Ländern ähnlich sein muss. Ich denke nach, während ich an jungen Soldaten mit Maschinengewehr und viel zu großen, dunkelgrünen Uniformen vorbeilaufe; an einem jungen und alten Männer- und Frauen-Quartett, die mitten auf dem Bürgersteig im diesigen Abendnieseln Badminton spielen. Vorbei an einer älteren Frau, die mit Mundschutz gerade an einer Mauer Streckübungen macht, hinter ihr, auf der großen Wiese vor dem Mausoleum, sitzen auf den weißen Bänkgen die jungen Paare. Die Männer in Lederjacken, Rockabilly-Stil, sie halten Hände, sind still oder reden nur leise trotz des Lärms, der sich wie eine marode Grundmelodie auf die zarte Abendszenerie drauflegt: Motorknattern, Hupen, Sirenen, helle Schreie, Bremsenquietschen im Regen. Ich sehe, Kinder, die zwischen ihren Eltern in die Rollersitze gequetscht an mir vorbeibrausen. Ein Mann, der mit einer zwei Meter großen Stechpalme auf dem Sattel durch die Taxen schießt, die sich mühsam den Weg durch das Gewusel bahnen. Und einen, der dutzende silberner Luftballons auf seinen Roller geladen hat, die im Fahrtwind wie ein gewaltiges, aufstrebendes Pfauenrad hin und her wackeln. Ein schnelles, kitschig-schönes Verkehrshindernis.
Im Tempel werde ich langsam müde, treffe den Gott zum Schutz gegen Angriffe aus dem Norden und muss dabei an die weißen Wanderer und Game of Thrones danken. Höre dann noch was zum Pragmatismus (gibt es eigentlich ein anders Wort dafür, das genau dasselbe aussagt?) in der Religion, von einer Frau im Norden, die kürzlich zum Christentum übergetreten ist, weil sie dort noch etwas bekäme mit der Hostie, und nicht mehr so viele Opfergaben bringen und ganze Enten für die Altargabe kochen müsse. Christ sein sei weniger anstrengend. Ein Argument, gegen das ich so nichts vorbringen kann, nur meine Prämissen im unsichtbaren Kulturrucksack, den ich heute versuche, so oft wie möglich abzulegen. Er klebt aber ein wenig und geht nur schlecht vom Körper.