Ich war gestern sehr gespannt, wie mein Rentier-Test im Taunus ausgehen würde: die Nase tief ins Fell stecken und warten, was passiert. Einige Stunden später war ich erleichtert, denn es war nichts passiert. Ich habe keine Allergie gegen Rentiere und kann im September nach Lappland fahren, um dort mit einem Photojournalisten und Rentierzüchter umherzuziehen und zu erfahren, wie die indigenen Sámi mit dem Klimawandel leben – und gerade die, die nach wie vor Rentierzucht betreiben, die in vielfacher Weise von Klimaveränderungen betroffen ist. Denn Rentiere brechen bei Flussquerungen ein, weil das Eis nicht mehr dick genug wird. Sie suchen neue, gefährlichere Wanderrouten oder finden weniger Flechten und Moose, weil es plötzlich nach einem Wärmeeinbruch geregnet hat und es danach wieder fror. Die dünne Eisschicht auf den Pflanzen macht den Rentieren das Fressen teils unmöglich, manche sind verhungert. Solche und andere Probleme sind Teil des samischen Lebens geworden – und sie sind sicher auch Teil des samischen Mediengeschehens, da ich im Rahmen meines Forschungsprojekts “Klimageschichten” untersuche.
Ich möchte samische Journalisten beobachten und ihren Umgang mit Umwelt- und Klimaveränderungen kennenlernen; zudem geht es in den Interviews um die Frage, inwieweit der Klimawandel in indigenen Medien vor Ort eine Rolle spielt, spielen sollte und welche Narrative und Interpretationen rund um das Thema entstanden sind. Denn vielleicht, mit etwas Forscherglück, sind in Lappland andere Ideen, Erfahrungen und Praktiken zu finden, die zumindest in Teilen für unsere Klimaberichterstattung oder die Ausbildung in diesem Feld inspirierend sein könnten.
Diskriminierung hinterlässt Skepsis, mehr als gedacht
All dies hatte ich eingeplant und auf dem Zettel: im Antrag für mein Forschungssemester, bei den Reiseplanungen und bei den ersten Gesprächen mit Sámi und Forschern, die indigenen Themen nachgehen und es geschafft haben, das Vertrauen des skandinavischen Urvolkes zu gewinnen, das über Jahrhunderte benachteiligt und diskriminiert worden ist. Bis heute gibt es viele Konflikte, von denen wir nichts mitbekommen, seien es Streitereien um Landrechte, Bergbau, der die Weidegründe der Rentiere bedroht oder Verschmutzungen von Flüssen und Seen. All dies hinterlässt stärkere Spuren, als ich gedacht hätte. Denn noch nie war es in einer Interviewstudie so schwierig, Mailpartner zu finden, bei Anrufen durchzukommen, zurückgerufen zu werden, weitere Kontakte zu bekommen. Ich muss größtenteils vor Ort anfangen, echte Vorbereitung geht kaum – es ist anders als sonst in der internationalen Journalismusforschung, meinem Hauptarbeitsfeld. Jetzt arbeite ich eher ethnografisch, noch zurückhaltender, muss ins Feld, Vertrauen aufbauen, mitreisen und mitjagen, dabei sein und helfen. Das haben wir ausgemacht.
An alles gedacht, Allergie vergessen
Woran ich nicht gedacht hatte, war meine Tierhaarallergie, die vor allem bei Pferden, Hunden und Katzen auftritt. Was aber, wenn ich auch auf Rentiere allergisch bin? Dann könnte ich die Feldbeobachtungen in Lappland sein lassen; mein Forschungsthema und die ganze Reise müssten einen anderen Verlauf nehmen. Deshalb war der Allergietest bei der Familie Link im Taunus nötig, die mich herzlich empfangen und genauestens über Rentierhaltungen im Gehege aufgeklärt hat. Rentiere werden in Deutschland und anderswo auch wegen des Futters selten gehalten, denn gewöhnliches Gras führt zur Übersäuerung. Die Links mischen daher ein alkalischeres Futter an, das der Moos- und Grasmischug im skandinavischen Fjell stärker ähnelt als die Halme einer einer fetten hessischen Wiese.
Rentier Momo, in dessen Rücken ich meine Nase vergrub, war anmutig trotz des löchrigen Fells, das es gerade in dicken Bündeln verliert. Mir ist der wache, sanfte und etwas melancholische Blick des Tieres aufgefallen, das bei den Links einfach sein darf; es sind keine Arbeitstiere. Nur rund um Weihnachten kommen Kindergärten, um die Rens zu bestaunen. Und am dritten Adventswochenende ziehen sie einen Schlitten, wenn die Großfamilie Weihnachtsbäume verkauft und Glühwein ausschenkt. Ich werde wohl mit meiner Familie im Winter selbst einmal hinfahren. Schon jetzt haben mir die Links und ihre beiden Rentiere sehr geholfen. Und auch das Nordfieber entfacht, das mich bei Himmel + Herde immer wieder zum Schreiben treibt.
170 Stunden Rentierwanderung live – Slow TV in Norwegen
Rentiere haben in Norwegen übrigens kürzlich für den großen Erfolg eines Fernsehformats geführt, bei dem nichts passiert – nichts im klassischen Sinn. Zu sehen war die Frühjahrswanderung einer Herde in Nordnorwegen, 170 Stunden lang, live. Der öffentlich-rechtliche Fernsehsender NRK hatte mit „Slow TV“ schon ähnliche Erfolge, etwa mit direkt übertragenem Stricken, Bahnfahren oder dem Törn des Hurtigruten-Schiffs von Bergen auf die Lofoten. In meinem Hochschulseminar „Medien und Zeit“ habe ich das Format mit Studierenden besprochen, sie waren eher skeptisch. Für Deutschland nicht machbar, war der Tenor. Ich würde jedenfalls sächsischen Wölfen bei einer Live- Wanderung zusehen, wohl nicht vier Stunden am Stück, aber immer wieder – so, wie es die meisten Norweger bei Slow-TV ebenfalls tun.
Meine herbstliche Forschungsreise führt zum Schluss nach Oslo, um dort, wie schon 2015, im Seminar „Climate Journalism“ von Andreas Ytterstad zu lehren. Ich werde ihn sicher zu Slow-TV mit Rentieren befragen – und auch Torbjørn Ekelund, mit dem ich mich verabredet habe. Der Journalist und Schriftsteller schreibt Bücher über die Wälder rund um Oslo. „Wildnis vor der Haustür“, so könnte man seinen Ansatz beschreiben; es ist die Perspektive, die auch mich interessiert hier in der Blog-Serie und bei Streifzügen zu Hause, alleine und mit der Familie, über die Ekelund auch immer im Hintergrund schreibt. Das gefällt mir meist besser als Autoren, die subjektiv arbeiten, aber nicht wirklich etwas über sich preisgeben.
Untergründige Wildnissuche
Wildnis und unberührte Natur – auch mit Familie Link sprach ich kurz darüber; es waren im Kern die Motive, die das Paar nach Norden in den Urlaub zog, wovon sie die Idee zur Rentierhaltung mit nach Hause brachten. Es ist der diffuse Impuls, der wohl die meisten Nordlandreisenden antreibt, eine untergründige Wildnissuche, über deren genauere Beschaffenheit ich mir an anderer Stelle gerade Gedanken gemacht habe. Auch mich führt diese Suche seit rund zehn Jahren immer wieder in den Norden Europas– mit der Familie und alleine, als Wanderer, Angler oder Journalist, im Strandurlaub, mit Kanutouren, Fjellquerungen, Bootsausfahren, Städtetrips und Reportagereisen. Ich habe dazu für die Onlineausgaben von Merian, Geo und Stern geschrieben und fotografiert – etwa über die Schollenfischerei vor der dänischen Westküste, das Kanurevier Glaskogen in Värmland, Bärenforschung in Mittelschweden, Angelausflüge im Lofotendorf Å, Artenzählen in Helsinkis Stadtpark Töölönlahti oder Wandern auf der norwegischen Hardangervidda. Diese einfache Karte zeigt die Reiseziele. Doch es ist erst der Anfang, denke ich oft. Denn den Blick auf einer Europakarte einfach immer nur weiter nach oben schweifen zu lassen reicht um zu sehen, wie viel es noch in dieser Landschaft zu entdecken gibt – einfach nur um ihrer Schönheit willen. Oder um der Ideen willen, die wir von den Menschen im Norden vielleicht mitnehmen können.
Über Skandinavien sind in den vergangenen Jahren viele Bücher verfasst worden, auch von Journalisten wie etwa Tilman Bünz, der als Korrespondent in Schweden gelebt hat. Ganz anders ist das Werk von Godela Unseld, die als eine Vertreterin des nature writing die Landschaften des Nordens wie keine zweite beschreibt. Oder Gavin Francis, der einen sehr kenntnisreichen historischen Einblick in die Geschichte der nordischen Hemisphäre gibt. Aus diesen Büchern habe ich viel mitgenommen. Mindestens ebenso viel aber haben mir Menschen gegeben, die ich in Skandinavien traf; manchmal ganz überraschend. Doch dann öffnet sich eine dieser Pforten zu Erlebnissen und Orten, die die Zeit verformen, die sich einprägen. Der junge Emil, der Herr des Mien-Sees, war jemand, der an solch einer Pforte stand und zu dem ich dann ins Boot stieg
Skandinavien ist zunehmend auch Thema meiner Arbeit an der Hochschule Darmstadt, wo ich nun schon zum zweiten Mal das Seminar „Scandinavian Journalism“ gegeben habe. Die Idee dazu kam mir durch einen spannenden Artikel in der Columbia Journalism Review, der den skandinavischen Journalismus als vorbildlich anpreist. Es ist eine gelungene Zusammenfassung der Spezifika und Stärken nordischer Mediensysteme. Auch sonst gibt es kaum eine internationale Liste, in der skandinavische Staaten nicht ganz vorne stehen, sei es bei Lebensqualität, Gleichberechtigung, Spitzenküche, Umweltparameter oder Gesundheitsverhalten. Doch warum ist das so, was macht die Kultur dieser Länder aus? Welche versteckten Codes haben sie, von denen andere womöglich lernen können im Hinblick auf eine bessere Lebens- und Umweltqualität? Und was ist vom viel zitierten nordischen Modell doch nur Mythos und Klischee? Was ist nicht übertragbar und zu sehr verhaftet in der eigenen Kultur dieser kalten Staaten in Randlage, die zudem mit neuen Problemen wie aufkommenden rechten Parteien zu kämpfen haben?
Diese und andere Fragen stellen ich mir oft, meist mit Gedanken an Journalismus und Politik, vor allem Umweltpolitik – den in diesem Feld sind Schweden, Norwegen, Finnland und Dänemark oft sehr weit, wie zum Beispiel in den Werken von Christoph Knill und Martin Jänicke nachzulesen ist. Damit habe ich mich während meines Europa-Studiums beschäftigt. Aber auch meine eigenen fortlaufenden Recherchen zur Fischereipolitik zeigen, dass die wichtigsten Ansätze häufig aus dem Norden kommen. Doch die Politik, die Pläne, das Berechenbare und Erforschte – das ist nur die eine Seite. Daneben steht eine diffuse Sehnsucht des Reisens und Aufbrechens, die mich manchmal unverhofft packt und gedanklich weit hinausträgt zu den Landschaften der Weite und Kälte.